Als das frühere Tengelmann Gelände aufgrund des Wegzugs des Unternehmens zur Verfügung stand, gab es mehrere zeitgleich gemachte Feststellungen:
- Mülheim leidet unter Wohnungsnot. Es gibt bereits in Mülheim wohnende Mitbürger ohne Wohnung. Und es gibt eine Vielzahl von potenziellen Neubürgern, die gerne nach Mülheim ziehen würden und gewerbesteuerpflichtigen Business mitbringen würden, wenn wir nur freie Top-Wohnungen für diese Topverdiener-Gruppe verfügbar hätten.
- Es gibt in Mülheim einige wenige Industriebrachen, die aufgrund ihrer Lage und der Altlastsituation im Boden grundsätzlich für Wohnbebauung geeignet sind. Um möglichst viele Wohnungen auf diesen Flächen errichten zu können, braucht es eine „vertikale Verdichtung“.
- Es gibt einen Investor mit Hochhauskompetenz in der mondänen Stadt Wien, der dem Anschein nach fähig ist, attraktive Wohngebäude zu errichten.
Als Vorgespräche zum Ergebnis kamen, dass diese drei Punkte zueinander passen, erwarb der Investor das Gelände und schrieb einen Wettbewerb unter Architekturbüros aus, der als Vorgabe eine große Wohnfläche und eine große Gebäudehöhe vorgab, die beide keinen Bezug zur bestehenden Nachbarbebauung haben und die ohne neuen Bebauungsplan keine Möglichkeit zur Realisierung haben.
Es wurde opportunistisch eine Lösung gefunden, frei nach dem Motto: wir haben eine Chance und müssen sie ergreifen, solange sie besteht.
So entstehen die meisten perfekte Lösungen, die an den Menschen, die sie nutzen sollen, vorbeigehen und die daher unbrauchbar sind: strategie- und konzeptlos.
Es fehlt die strategische Planungsebene. Vor der Antwort auf die Frage:
- „Wie soll dieses Grundstück bebaut werden?“
müssen viele Fragen beantwortet werden, die so klingen wie
- „Was sind die Anforderungen der Bürger?“,
- „An welchen Stellen im Stadtgebiet lassen sie sich erfüllen?“,
- „Gehen die Wünsche der heutigen Bürger vor, oder die der für die Zukunft erwarteten Zureisenden?“ und
- „Was ist für die jeweiligen Nachbarn akzeptabel?“.
Politik und Verwaltung sind für die Bürger da. Diese müssen gefragt werden und nur das, was diese wollen, darf umgesetzt werden.
Im Rahmen einer strategischen Weiterentwicklung der Bebauung der Stadt Mülheim an der Ruhr ist es insbesondere viel zu kurzsichtig, nur ein Baufeld zu betrachten, wenn plötzlich Gebäude errichtet werden sollen, die mehr als 5-mal so hoch sind, wie die unmittelbare Bestandsbebauung.
Es fehlt ein stadtweiter quartiersspezifischer mit Öffentlichkeitsbeteiligung aufgestellter Hochhausrahmenplan.
Erst wenn dieser vorliegt, darf über Einzellösungen nachgedacht werden. Der aktuelle Vorschlag einer Hochhausbebauung auf dem früheren Tengelmann Gelände bleibt in allen Teilen unprofessionell, solange es diesen Hochhausrahmenplan nicht gibt. Ein gutes Beispiel dafür, wie er aussehen kann, ist der Hochhausrahmenplan der Stadt Düsseldorf, der im Zeitraum 2018 bis 2022 erstellt wurde und der den bisherigen Hochhausrahmenplan von 2004 ersetzt. Information zur Vorgehensweise und zum Ergebnis hat die Stadt Düsseldorf veröffentlicht.
Mülheim verfügt weder über einen Hochhausrahmenplan aus den vergangenen Jahren noch über eine Aktualisierung, die für die Jahre 2022 ff passt. Hier besteht enormer Handlungsbedarf, bevor die Planung für einzelne Grundstücke und damit rechtliche Veränderungen durch individuelle grundstücksbezogene Bebauungspläne beschlossen werden können, die dort Hochhäuser zulassen, wo bislang nur eine 3 bis 6-geschossige Bebauung besteht.
Der Hochhausrahmenplan beginnt mit einer Analyse des Bedarfs, denn wenn es keinen Bedarf gibt, braucht es auch keine Hochhäuser. Die Kernfragen, die in diesem Rahmen zu beantworten sind lauten:
- Wie entwickelt sich die Bevölkerung in Mülheim in den nächsten 30 bis 50 Jahren?
- Wie wird ein mögliches Wachstum für Mülheim vor dem Hintergrund der demographischen Situation begründet? (Hinweis: das statistische Bundesamt beschreibt 4 Varianten, von denen die Maximalvariante einer Stagnation entspricht und die Minimalvariante von einem Abschmelzen um 20% bis 2070 ausgeht).
- Wie viele Wohnungen werden zusätzlich benötigt?
- Wer soll darin wohnen?
- Wo wohnt sie/ er heute (Stadtteil in Mülheim, Nachbarstadt oder weiteres Umfeld)?
- Welche Anforderungen hat sie/ er an Wohnweise und Komfort sowie an Kosten?
- Was ist bei potenziellen Neubürgern deren Motivation, nach Mülheim zu ziehen?
- Was ist bei potenziellen Neubürgern die Motivation der Stadt die bestehenden Einwohner durch eine Hochhausbebauung zu verärgern?
- Falls Frage 8 mit „Industrie- und Gewerbeansiedlung“ beantwortet wird: Welche Erfolgsparameter außer der Wohnsituation kann Mülheim im Vergleich zu anderen Städten bieten?
- Falls Frage 8 mit „Industrie- und Gewerbeansiedlung“ beantwortet wird: Hätte Valourec den Standort in Mülheim nicht aufgegeben, wenn auf dem früheren Tengelmann Gelände „schlanke akzentuierende Hochhäuser“ gestanden hätten?
Liegt aufgrund der Beantwortung obiger Fragen ein belastbares numerisches Gerüst vor, so geht es inhaltlich weiter:
- Was muss geschehen, damit die numerisch validierte Wohnungsnot gelöst werden kann?
Dazu muss zunächst die ergänzende Frage beantwortet werden:
- Welche Wohnflächen sind je betrachtetem freien oder frei werdenden Grundstück der Stadt Mülheim an der Ruhr möglich, ohne den bestehenden Bebauungsplan zu ändern oder einen neuen aufzustellen, und welcher Anteil des Wohnbedarfs lässt sich damit lösen?
Jetzt muss für den verbleibenden Bedarf Stadtteil für Stadtteil und Freifläche für Freifläche betrachtet werden und im ersten Schritt bestehende und potenzielle Freiflächen analysiert werden. Kernfragen sind:
- Was sind die möglichen Auswirkungen einer potenziellen Verdichtung auf das soziale Umfeld, auf die Infrastruktur der kommunalen Daseinsvorsorge (Schulen, Kindergärten, Altenheime, Einkaufszonen, Feuerwehr, Straßen, öffentliche Parkflächen, ÖPNV, …) und die sonstigen Bedürfnisse?
- Was sind die Auswirkungen auf das Stadtbild bei vertikaler Verdichtung?
- Was sind die Auswirkungen auf das Stadtbild bei horizontaler Verdichtung?
- Was ist für die jetzigen Bewohner der Nachbarschaft zumutbar?
Danach muss ein Ranking erfolgen, bei dem stadtweit alle betrachteten Flächen in allen Ortsteilen miteinander verglichen werden und alle Vor- und Nachteile untereinander abgewogen werden. Insbesondere sind eine Vielzahl geringfügiger Änderungen der Bebauungspläne einer möglichen Variante mit nur einer singulären aber massiven Änderung gegenüber zu stellen.
Schließlich muss das Ergebnis des Hochhausrahmenplans der Öffentlichkeit vor der Festlegung durch die Politik zur Diskussion mitgeteilt werden.
Dies alles fehlt für Mülheim. Die Stadt hat ihre Aufgabe in der Vergangenheit nicht erfüllt und übersieht auch aktuell diese Notwendigkeit.
Ohne Hochhausrahmenplan aber sind Entscheidungen zu Gunsten einer Aufstellung von Bebauungsplänen, die die Errichtung von Hochhäusern zulassen, nicht diskutabel. Die Voraussetzungen für eine angemessene Auseinandersetzung mit der Thematik müssen erst gegeben sein. Die Schularbeiten müssen begonnen werden.