Liebe Leser,
das Gesetz zur Beschleunigung des Wohnungsbaus und zur Wohnraumsicherung – der sogenannte „Bauturbo“ – ist vor wenigen Wochen vom Deutschen Bundestag beschlossen worden.
In einer Stellungnahme geht das Netzwerk „Parkstadt Mülheim… aber richtig!“ der Frage nach, was dies konkret für Mülheim an der Ruhr bedeuten könnte, insbesondere für die geplanten Großprojekte in den Stadtteilen Speldorf und Broich.
Aus diesem Grund haben wir eine Pressemitteilung veröffentlicht.
„Bauturbo“ – für Mülheim Chance und Herausforderung zugleich
Mülheim an der Ruhr, 28.10.2025 – Das von der Bundesregierung Anfang Oktober beschlossene „Gesetz zur Beschleunigung des Wohnungsbaus und zur Wohnraumsicherung“ – bekannt unter dem Begriff „Bauturbo“ – ist nach Einschätzung des Netzwerks „Parkstadt Mülheim… aber richtig!“ für die Stadt Mülheim an der Ruhr Chance und Herausforderung zugleich. Mit Blick auf zusätzlichen Wohnraum könne die Stadt insbesondere auf eigenen Grundstücken mit gutem Beispiel vorangehen und günstige Wohnungen mit planerisch übersichtlichem Aufwand errichten – dies sei eine Chance. In Bezug auf Großprojekte wie beispielsweise die sogenannte „Parkstadt Mülheim“ oder das Wetec-Gelände in Speldorf stehe die Stadt vor der Aufgabe, endlich einen städtebaulichen Rahmenplan zu entwickeln auf Grundlage belastbarer demografischer Fakten und insbesondere mit Akzeptanz durch die Bürgerinnen und Bürger – darin bestehe die Herausforderung, so das Netzwerk. Als planerisches Werkzeug für das Projekt „Parkstadt Mülheim“ eigne sich der „Bauturbo“ jedoch nicht.
Das nunmehr beschlossene Gesetz sieht planungsrechtliche Änderungen zugunsten der Schaffung von Wohnraum und von den Bedürfnissen der Bewohner dienenden Anlagen für soziale und kulturelle Zwecke vor, und zwar durch diese bis Ende 2030 befristeten Neuregelungen:
- von bestehenden Bebauungsplänen kann einfacher befreit (neu § 31 Abs. 3 BauGB) und abgewichen werden (neu § 246e Abs. 1 BauGB),
- bei einer Lage i.S. § 34 BauGB (innerhalb der im Zusammenhang bebauten Ortslage) kann vom Erfordernis des Einfügens in die nähere Umgebung abgewichen werden (neu § 34 Abs. 3b BauGB),
- in begründeten Fällen können in Bebauungsplänen Abweichungen von der TA-Lärm zugelassen werden (neu § 9 Abs. 1 Nr. 23 BauGB),
- im Außenbereich dürfen unter bestimmten Voraussetzungen die Sonderbestimmungen auch auf Vorhaben angewendet werden, die im räumlichen Zusammenhang mit Bauland stehen (neu § 246 e Abs. 3 BauGB).
In einer eigenen Analyse geht das Netzwerk der Anwendbarkeit des „Bauturbos“ in Mülheim an konkreten Beispiele nach – siehe Anlage.
„Jetzt sind die Kommunalpolitiker gefordert, denn sie müssen in Mülheim dem Einsatz des sogenannten ‚Bauturbos‘ projektbezogen zustimmen“, sagt Netzwerk-Sprecher Joachim Mahrholdt. „Damit sind sie in der Pflicht. Die Verwaltung kann es sich nicht mit Verweis auf die neue Gesetzeslage einfach machen und Projekte durchwinken.“
Die neue Gesetzeslage stelle die Kommunalpolitik in Mülheim zudem vor die Aufgabe, klare städtebauliche Regelungen und Willensbekundungen zu formulieren, natürlich vor dem Hintergrund langfristig relevanter Umweltaspekte und aktueller demografischer Prognosen. Das bislang vorliegende privatwirtschaftlich veranlasste „Handlungskonzept Wohnen“ spiegele nicht die wissenschaftlich fundierte Lage wider, so das Netzwerk. Mit einem langfristigen nennenswerten Bevölkerungszuwachs könne Mülheim nicht rechnen – dies habe jüngst das Statistische Landesamt prognostiziert. Deshalb müsse man sich als Stadt planerisch jetzt ehrlich machen und mit einem städtebaulichen Gesamtkonzept etwas nachholen, was jahrelang vernachlässigt bzw. versäumt wurde.
Mahrholdt: „Die Politik muss ganz einfache Fragen beantworten: Brauchen wir in Speldorf und Broich wirklich so viele Wohnungen wie geplant, oder wollen hier Investoren nur Geld verdienen? Ist jetzt nicht beim Projekt ‚Parkstadt Mülheim‘ und beim Wetec-Gelände ein Gesamtplan fällig, wie ihn selbst der Oberbürgermeister vor seiner Wiederwahl gefordert hat? Will man wirklich in Mülheim weiterhin Baupolitik am Bürger vorbei machen?“
Analyse des Netzwerkes zum „Bauturbo“ und dessen mögliche Bedeutung für die Mülheimer Stadtentwicklung
1. Anlass
Mit dem Gesetz zur Beschleunigung des Wohnungsbaus und zur Wohnraumsicherung“ (Bundestagsdrucksache 21/781 neu) möchte die Bundesregierung den Bau von bezahlbarem Wohnraum vereinfachen.[1] Das Gesetz ermöglicht Gemeinden befristet bis zum 31. Dezember 2030 den Bau von Wohnungen zu beschleunigen, indem sie unter bestimmten Bedingungen von den Vorschriften des Bauplanungsrechts abweichen können.[2] Da hohe Baukosten und Grundstückspreise weiterhin die Wirtschaftlichkeit des Bauens bestimmen, handelt es sich beim vorliegenden Gesetz in erster Linie eher um eine Verschlankung des Planungsprozesses, also um einen „Planungsturbo“.
Was kann das Gesetz für die Stadtentwicklung unsere Stadt bringen?
2. Rückblick
Blickt man auf die vergangene Wahlperiode zurück, so konnten die Bürger den Eindruck gewinnen, dass „Mülheimer Stadtentwicklung“ als Einzelfallentscheidungen von Planungsverwaltung und Politik verstanden wurde. Eine Orientierung an gesamtstädtischen oder übergeordneten Leitbildern war nicht erkennbar.[3]
Blickt man noch etwas weiter zurück, so war es selbstverständlich, sich bei der städtebaulichen Beurteilung der Standortverträglichkeit beispielsweise an sorgfältig erarbeiteten und politisch beschlossenen Räumlich-Funktionalen Entwicklungskonzept (RFEK) und Teilraumentwicklungskonzepten zu orientieren.[4]
Wann hörte das eigentlich auf und warum?
Eine besondere Funktion zur Rechtfertigung konkreter Wohnraumentwicklungen sollte Ende 2024 das „Handlungskonzept Wohnen“ erfüllen, indem das private Gutachten durch den Stadtrat als „städtebauliches Entwicklungskonzept“ gemäß § 1 Abs. 6 Nr. 11 BauGB per Rat beschlossen wurde.[5] Dieses „Konzept“ beschränkt sich, gestützt auf heute bereits widerlegter Einwohnerprogosen, auf eine über viele Jahre anlegte Hochrechnung vermeintlicher Bedarfe. Diese sollen – damit die Arbeit schnell erledigt ist – zum größten Teil kurzfristig über entsprechende Bebauungspläne für Neubauvorhaben abgesichert werden.
In Ermanglung jeglicher stadträumlicher Bezüge stellt das „Handlungskonzept Wohnen“ aber keinen Ersatz für ein strategisches RFEK oder Teilraumentwicklungskonzepte dar. Zudem wurden im „Handlungskonzept Wohnen 2024“ die gesamtstädtischen Umbaupotentiale fast vollständig ausgeblendet. Dem Konzept fehlt es entsprechend auch an inhaltlicher Tiefenschärfe, z.B. im Zusammenhang mit der Erhebung der Leerstands- und Umbaupotentiale Wohnen und Gewerbe. Dies betrifft insbesondere Büroflächen.[6] Für unsere Stadt liegen diesbezüglich keine Zahlen vor. Die Bedeutung dieses Grundlagen-Erhebungs-Mangels wird an einem aktuellen Urteil des OVG Saarlouis deutlich, der zur Nichtigkeit eines Bebauungsplanes führte.[7]
3. Vorblick
Die bedarfsorientierte Schaffung von Wohnraum und der Erhalt bzw. die Verfügbarkeit von Gewerbeflächen ist wichtig. Gleichzeitig ist es Aufgabe der Stadtplanung heute mehr denn je, auch langfristig-relevante Umweltaspekte zu berücksichtigen.[8] Dabei sollten sich die Einzelvorhaben in gesamtstädtische bzw. teilraumbezogene Entwicklungskonzepte einfügen. Diese Konzepte sind als städtebauliche Orientierungsrahmen mittlerweile vollständig aus dem Blick geraten.
Nun kommt der „Bauturbo“ mit seinen Öffnungsklauseln zu Genehmigungsverfahren und städtebaulicher Qualität. Überwiegend bedarf es hierzu der „Zustimmung der Gemeinde“, also der Politik. Diese kann gemäß des neuen § 36 a BauGB „ihre Zustimmung unter der Bedingung erteilen, dass der Vorhabenträger sich verpflichtet, bestimmte städtebauliche Anforderungen einzuhalten.“
Wie wird sich die neue politische Mehrheit diesbezüglich positionieren? Wird es „weiter so“ ein Reagieren auf Investorenwünsche geben oder werden frühzeitig zum Wohle der Stadt für die Bürger nachvollziehbare und belastbare, räumlich differenzierte städtebauliche Rahmenbedingungen entwickelt und verbindlich angewendet?
4. Mögliche Anwendungsbeispiele
Der „Bauturbo“ ist kein Garant für eine Mobilisierung der privaten Immobilienwirtschaft. Aber gerade die Stadt kann die Chance nutzen, vakante städtische Immobilien unter Berücksichtigung des neuen, zeitlich befristeten Planungsrechtes einer Neubeurteilung zu unterziehen. Zur Ausnutzung der planungsrechtlichen Beschleunigungseffekte sind Flächen mit baulicher Vorprägung prädestiniert, für deren Umnutzungsbeurteilung keine hohen gutachterlichen Aufwendungen mehr zu erwarten sind.
Dies trifft in besonderem Maße beispielsweise auf den Bebauungsplan „Oberheidstraße/ Mühlenstraße – R 28“ zu. Laut Darlegungstext wird temporär ein überwiegender Teil des Plangebietes bereits wohnwirtschaftlich als Standort für Flüchtlingsunterkünfte genutzt. Der planungsrechtlichen Entwicklung von Geschosswohnungsbau dürften aufgrund der Änderung des § 9 Abs. 1 Nr. 23 Buchstabe a BauGB auch immissionsschutzrechtliche Gründe nicht zwingend entgegenstehen.
Ein zweites Beispiel ist der Verkauf einer städtischen Fläche am Peisberg. Auch hier wird wieder das Einfamilienhaus-Segment bedient. Warum geht die Stadt nicht mit gutem Beispiel voran und fördert den dringend erforderlichen Geschosswohnungsbau? Sie hätte es selbst im Griff und gibt die Möglichkeit aus der Hand?![9]
Bei genauer Prüfung durch die Fachleute der Mülheimer Stadtentwicklung lassen sich mit Sicherheit noch zahlreiche weitere Handlungsansätze für Mülheim an der Ruhr erkennen!
5. Fazit
Bei Ausschöpfung aller Brachflächen-, Umbau- und Leerstandspotentiale, in nachbarschaftlich vertretbaren Einheiten verteilt über das gesamte Stadtgebiet, lassen sich – als Voraussetzung für eine Fortsetzung regulärer Bebauungsplanverfahren[10] – auch die Planungsansätze im Teilraum Broich-Speldorf mit „Parkstadt“ und Umgebung sowie „Duisburger Straße – südlich der Rennbahn“ auf ein angemessenes Maß reduzieren. Ein Prozess und Planungsansatz, der den Namen „Stadtentwicklung“ verdient.
Hierzu bedarf es eines hohen Maßes an Verantwortungsbewusstsein für unsere Stadt, Transparenz, Kommunikationsbereitschaft und einem neuen Selbstverständnis im Umgang mit der Stadtgesellschaft. Ansonsten führt der „Bauturbo“ zu weiteren einsamen, weitreichenden und zukunftsrelevanten Fehlentscheidungen zu Lasten des Mülheimer Stadtbildes. Im Falle eines in dieser Form geläuterten Umgangs der Planungsverwaltung mit der neuen gesetzlichen Grundlage kann der „Bauturbo“ dazu beitragen, dringend erforderlichen bezahlbaren Wohnraum zu realisieren.
Quellen:
[1] Gesetzentwurf zur Beschleunigung des Wohnungsbaus und zur Wohnraumsicherung https://dserver.bundestag.de/btd/21/007/2100781.pdf
[2] FAQ des BMWSB zum „Bauturbo“: https://www.bmwsb.bund.de/DE/bauen/baurecht/bau-turbo/umsetzer.html?nn=42910
[3] Beispiele für Leitbildprozesse „Zukunft.Essen.Innenstadt“: https://www.essen.de/leben/planen_bauen_und_wohnen/essen_plant_und_baut_/grundstuecke_und_quartiersentwicklung/essen_de___inhaltsseite_161.de.html und Charta Grüne Infrastruktur Metropole Ruhr: https://www.rvr.ruhr/themen/oekologie-umwelt/gruene-infrastruktur/charta-gruene-infrastruktur/
[4] Grundlagen der Mülheimer Stadtentwicklung: https://www.muelheim-ruhr.de/cms/stadtentwicklung5.html
[5] Beschlussvorlage V 24/0698-01 „Handlungskonzept Wohnen 2024“ zum Ratsbeschluss vom 05.12.2024 https://ratsinfo.muelheim-ruhr.de/public/wicket/resource/org.apache.wicket.Application/doc788477.pdf
[6] Leerstand in Düsseldorf auf einem Höchststand: https://www.realestate.bnpparibas.de/marktberichte/bueromarkt/duesseldorf-at-a-glance
[7] Urteil des OVG Saarlouis vom 21.10.2025 gegen Bebauungsplan „nördliches Stuhlsatzenhaus“ u.a. wg. fehlender Prüfung von Wohnungsleerständen: https://wald-statt-asphalt.net/hanni-bleibt-bebauungsplan-endgueltig-gestoppt/
[8] Stichworte: Klimaschutz, Klimaanpassung, grüne und blaue Infrastruktur
[9] Preisberg – https://cms.muelheim-ruhr.de/rathaus/aktuelles/aktuelle-meldungen/verkauf-von-vier-wohnbaugrundstuecken-am-peisberg
[10] Bei der Fortsetzung der Bauleitplanverfahren sind die Hinweise der Mülheimer Architekten zu berücksichtigen: https://parkstadt-muelheim-aber-richtig.de/allgemein/architekten-fordern-instrumente-zur-absicherung-der-parkstadt-plaene
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